Depressionen: Warum Reisen für mich auch Therapie ist

"Man kann ja wohl mal ein Jahr zu Hause bleiben" - ein gern gehörter Satz während der Corona-Pandemie. Auf Facebook lese ich ihn gefühlt 100 Mal am Tag, in jeder Reise-Gruppe, unter jedem Post, bei dem jemand eine Reise erwähnt. Es ist schön, dass viele Menschen darauf verzichten können. Aber für manche Menschen ist Reisen nicht nur ein Hobby, sondern Medizin. Für Menschen mit chronischen Depressionen beispielsweise kann Reisen eine therapeutische Wirkung haben. Auch für mich ist das so. Das Reisen ist ein Antidepressiva für mich. Das Reisen selbst, weil es mich aktiver, lebendiger, abenteuerlustiger und ruhiger macht. Aber auch die Vorfreude auf geplante Touren spielt eine wichtige Rolle. 


  Vor einigen Tagen habe ich bei "Reisepsycho.com" einen sehr interessanten Beitrag gelesen. Es ging um die therapeutische Wirkung vom Reisen bei psychischen Erkrankungen - aus fachlicher Perspektive, immerhin ist Barbara nicht nur Reisebloggerin, sondern auch Psychologin. Ihr Fazit: Reisen kann Therapie sein. Mir gingen beim Lesen einige Dinge durch den Kopf - und ein paar Punkte möchte ich mit euch teilen.   
     

Depressionen: Wie ein normaler Alltag zur Belastung wird

Es ist etwas mehr als ein Jahr her, als ich euch erzählt habe, wie es ist, mit Depressionen zu verreisen. Ich bin chronisch depressiv, festgestellt wurde das vor rund 15 Jahren. Und etliche Therapien, viele Medikamente und drei Klinik-Aufenthalte später, sitze ich hier und blogge über das Reisen. Ich habe rezidivierende depressive Störungen, das heißt, dass meine Depressionen immer wieder kommen, mein Leben lang. Es ist quasi unheilbar, kann aber natürlich besser werden. Man spricht dann von einer symptomfreien depressiven Phase.

 

Ich habe Monate, manchmal Jahre, in denen ich ein ganz normales Leben führe und die Depressionen im Hintergrund sind. Ich bemerke sie quasi nicht und habe auch keine Symptome (dazu gehören etwa Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Nervosität, Verspannungen, Schlaflosigkeit, Ausschläge, Kieferklemme, Migräne).

 

Dann gibt es aber auch die anderen Phasen, die akuten depressiven Episoden, die verschieden stark sind: Mal nur leicht, dann kriegt man das normale Leben noch halbwegs hin. Mal mittelschwer, dann wird es schon schwieriger, einen normalen Alltag zu gestalten. Und mit schweren Depressionen geht quasi nichts mehr.


Depressionen und Therapieansätze - mit und ohne Reisen

Das hier ist ein Reiseblog und auch in diesem Beitrag soll es überwiegend darum gehen, wie sich das Reisen auf die psychische Gesundheit auswirken kann - und bei mir auswirkt. Allerdings braucht es zum Verständnis noch etwas Hintergrund . Denn bei der ersten und akuten Depression einfach so eine Reise zu starten, das kann böse ausgehen. 

 

Ich habe in den vergangenen 15 Jahren in zahlreichen Therapien Methoden gelernt, die mir helfen, mit den Depressionen umzugehen - in Kombination mit medikamentöser, psychotherapeutischer und neurologisch-psychiatrischer Behandlung. Auch hier der Hinweis: Alleingänge können gefährlich werden.

 

Die Methoden sind für verschiedenen Phasen, die man als Mensch mit Depressionen erlebt: 

 

Symptomfreie Zeit: 

Es geht darum, das Level zu halten, auf dem man sich gut fühlt. Etwa durch Sport und viel Entspannung, durch soziale Kontakte und Unternehmungen. Es ist die Phase, in der man herausfindet, was einem guttut. Außerdem sollten Notfallpläne geübt werden, um die nächste Depression zu überstehen - indem die Dinge, die einem guttun, so oft gemacht werden, dass sie im Notfall direkt abrufbar sind.

 

Depressionen im Anmarsch: 

Bei den ersten Malen habe ich die Depressionen nicht kommen sehen. Inzwischen bin ich routinierter darin und erkenne, wenn sich die Depressionen langsam zeigen. Ich werde nervös, kann mich nicht konzentrieren, bin unfassbar müde und enorm launisch. Hier hilft vor allem Entspannung und Ruhe bewahren. 

 

Während der Depression: 

Während der depressiven Phase ist es eigentlich unmöglich, Methoden zu erlernen, um sich selbst wieder aufzuhelfen. Deshalb ist es hier wie in allen Lebensbereichen: Je besser man vorbereitet und trainiert ist, desto besser funktioniert etwas: Wer Dinge, die einem guttun, schon fest verankert hat, kann damit durch depressive Phasen kommen und sie möglicherweise sogar verkürzen.

 

Nach der Depression: 

Nach der akuten depressiven Phase ist vor allem Krafttanken angesagt. Man sagt, ein Tag mit einer akuten Depression sei für den Körper so anstrengend wie ein Tag mit 40 Grad Fieber. Der Körper muss sich also wie auch Seele und Geist erholen und wieder Kraft tanken.  


Hilfe gegen die Depression: Reisen, Wellness, Bewegen

Jeder Depressive oder psychisch Erkrankte muss für sich selbst herausfinden, welche Methoden ihm oder ihr helfen und guttun. Das kann jahrelange Arbeit sein - und ist nicht für immer gültig, sondern kann sich ändern. 

 

Ich liebe es, unterwegs zu sein. Aber ich bin auch sehr gerne zu Hause in Hannover. Ich liebe mein Zuhause, meinen Mann, meine Tiere - im Gegensatz zu vielen Reisenden, die sagen, sie brauchen das Materielle nicht mehr, brauche ich es: Ich mag es, wenn ich ein wenig Auswahl im Schrank habe und nicht immer die gleichen fünf Tops anziehen muss. Ich mag es, meine Bücher um mich zu haben. Solche Dinge. 

 

Ich habe mir Methoden angeeignet, um im Alltag klarzukommen. Ich habe gelernt, in mich zu hören: Was brauche ich? Was hilft mir? Da ich aufgrund der Depressionen starke Verspannungen habe, ist Wellness für mich eine zentrale Methode. Ich liebe es, im Whirlpool zu liegen, mich bei einer Massage zu entspannen oder in der Sauna zu schwitzen. 

 

Auch der Besuch im Stadion ist so ein Punkt für mich. Ich bin großer Fan von Werder Bremen und in den Zeiten, in denen ich in Deutschland bin, bin ich gerne und oft im Stadion. Vor allem seit ich in Hannover wohne, bin ich manchmal fünf, sechs Heimspiele in Folge im Weserstadion - und treffe mich dort auch mit Bekannten und Freunden. Meist sehe ich vorher oder nachher mein Patenkind, sie wohnt ja auch in Bremen. Wenn ich nicht im Stadion bin, schaue ich die Spiele in meiner Stammkneipe in Hannover an - zusammen mit Freunden und Bekannten, die ebenfalls Werder-Fans sind.

 

Ich wusste schon sehr früh, dass mir das Reisen guttut. Ich war schon vor der Diagnose viel unterwegs und auch viel alleine unterwegs. Reisen gibt mir Freiheit und ich kann ein anderer Mensch sein. Ich bin selbstbewusster und selbstsicherer, ich kann mich Herausforderungen und Problemen ganz anders stellen und bewahre die Ruhe, während ich daheim auch mal verzweifle. Wie die meisten psychisch Kranken habe ich nicht das beste Bild von mir selbst (übrigens nur im persönlichen Bereich, im beruflichen bin ich total selbstbewusst und weiß sehr genau, was ich kann) und beim Steigern des Selbstbewusstseins und bei Konfliktlösungen haben mir Reisen enorm geholfen. 


Reisen mit Depressionen: Was Reisen für mich bedeutet

"Man kann ja wohl mal ein Jahr auf Reisen verzichten" - das höre ich seit Ausbruch der Corona-Pandemie sehr oft. Mich ärgert der Satz ungemein. Denn damit behauptet jemand zu wissen, auf was ich verzichten kann und auf was nicht.

 

Als es beispielsweise darum ging, dass in der Covid-19-Krise Gottesdienste weiterhin erlaubt sind, las ich öfter, dass es gut ist, weil es Menschen Kraft gibt und sie in schwierigen Zeiten einen Ort brauchen, der ihnen Halt gibt. Was für manche Menschen Gottesdienste sind, sind für mich Reisen. Es ist mir ein Bedürfnis, es gibt mir Kraft und Halt und lässt mich als Person reifen und weiterkommen. Ich kann abschalten und Neues lernen, zur Ruhe kommen und Abenteuer erleben - und im Zweifel alles gemeinsam. 

 

Anderen Leuten ist Weihnachten wichtig - für sie ist es schmerzhaft, die Feiertage nicht mit ihrer Familie im großen Kreise feiern zu können. Ich habe keinen emotionalen Bezug zu Weihnachten, dieses christliche Fest gibt mir persönlich nicht viel. Ich kann problemlos auf Gottesdienste und Weihnachten verzichten - viel problemloser als auf das Reisen.

 

Ich entdecke gerne neue Orte, bekomme neuen Input. Auch wenn es mir im Alltag schwerfällt, Dinge zu genießen und ich viel Bewusstseins- und Achtsamkeitstraining mache, damit ich diese Genussmomente und Momente des kleinen Glücks wahrnehme, sehe und verinnerliche, ist es auf Reisen ganz einfach für mich. Ich bin einfach glücklich. Ich liebe die Sonne und den Schnee, ich liebe es, draußen zu sein. Während ich mich daheim oft schwer tue, mich aufzuraffen, um vor die Tür zu gehen, fällt es mir unterwegs so leicht. 

 

Mit der Zeit habe ich mehrere Häfen gefunden, in denen ich gerne andocke. Norwegen und Kenia sind meine zweite und dritte Heimat. Ich fühle mich dort geborgen und wohl. Es ist bekannt und fremd gleichzeitig, ich habe meine Freunde dort und weiß genau, wo was ist. Die Länder und meine Netzwerke vor Ort geben mir das Grundgerüst an Halt und Sicherheit, und darin kann ich mich ausprobieren, entwickeln und Abenteuer erleben. Und manchmal auf die Nase fallen - aber dafür sind Abenteuer ja da. Unterwegs erhole ich mich von Niederlagen auch viel schneller - und schmiede direkt neue Pläne.

 

Auch wenn ich während der Corona-Krise nicht viel verreist bin und auch nicht in Risikogebieten war, so kann ich jene verstehen, die auch in dieser Zeit weiter weg wollen. Abgesehen davon, dass man auch unterwegs Abstand halten und auf Hygiene achten kann - und die Risiken, sich mit Covid-19 zu infizieren, minimieren kann -, hat Reisen für mich nämlich durchaus einen therapeutischen Ansatz. Womit ich wieder beim ausgangs erwähnten Text von Barbara von "Reisepsycho" wäre. 

Schon gelesen?

 

► Senja: Norwegen in Miniaturformat

► Ein Plädoyer fürs Alleine Reisen als Frau

► Darauf solltest du zum Tierwohl verzichten

► 28 Kilometer zur Trolltunga in Norwegen

► Mein schönster Sonnenaufgang [in Kenia]

 

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Reisen macht mich stark - und verdrängt die Depressionen

Zum Thema Selbstbewusstsein beispielsweise habe ich bereits etwas geschrieben. Es gibt einfach Situationen unterwegs, in die man zu Hause eher selten bis gar nicht kommt.

 

Als ich in Kenia den Mount Longonot bestiegen bin, kam ein Gewitter auf, als ich auf fast 2800 Metern Höhe war. Das Gewitter hatte ich weder kommen sehen noch hören - ich musste für mich selbst in dem Moment entscheiden, was ich nun tun würde. Ich war alleine. Und ich bin ruhig geblieben. Ich habe versucht, in mich zu hören und darauf zu vertrauen, dass ich jetzt das richtige tue. 

 

Als ich in Botswana von Nata nach Maun wollte, fuhren kaum Busse, weil die Straße total überflutet war. Ich wollte aber nach Maun - und habe mich trampend mit einem Schild auf den Parkplatz einer Tankstelle an der Abbiegung gestellt. Irgendwann kam ein Bus - und ich wusste, dass ich im Stockfinsteren ankommen würde, denn die Fahrt dauerte mehrere Stunden. Ich hatte kein Zimmer reserviert, weil ich ja nicht wusste, ob ich ankommen würde. Aber wie fast immer, wenn ich unterwegs war, ergab sich eine Lösung, einfach so. Ein Mann, der im Bus neben mir saß, verwickelte mich in ein Gespräch. Er rief einen Freund an, der mich an der Endstation abholte (er war schon ausgestiegen) und der mich zu einer bestimmten Lodge fahren sollte. Der Mitfahrer hatte ihm direkt gesagt, dass er bitte warten sollte, ob ich auch ein Zimmer bekommen würde - und mich sonst eben wo anders hinbringen sollte. 

 

Als ich in Schweden war, stieg ich in den falschen Bus und wurde mitten im Wald irgendwo bei Stockholm aus dem Bus geworfen, weil die Endstation erreicht war - im Dunklen. In Norwegen ging das Auto auf dem Weg zum Flughafen kaputt, in Kenia haben wir uns ein Loch in den Tank gefahren und in Kuba sind wir liegengeblieben, weil das Benzin ausging.

 

Es sind Dutzende, vielleicht Hunderte dieser Situationen, die ich auf Reisen immer wieder erlebe und die mich unglaublich stark machen. Stark genug, um zu wissen, dass ich auch die nächste depressive Phase überstehen kann. Stark in einem Moment, in dem ich mich zunächst hilflos gefühlt habe (also genauso, wie ich mich in akuten depressiven Phasen fühle), und es doch aus eigener Kraft und mit eigenem Mut geschafft habe, eine Lösung zu finden. Momente, in denen ich über mich hinausgewachsen bin.


Reisen mit Depressionen: Die andere Miriam

Einer der Menschen, der mich am besten auf dieser Welt kennt, ist meine Mama. Sie sagte mal zu mir, dass sie mich unbedingt in Norwegen und in Kenia erleben möchte, weil sie das Gefühl hat, dass sie mich als ihre Tochter nur dann wirklich kennt, wenn sie mich dort erlebt hat. 

 

Was meine Mama damit sagen will: Auch wenn ich natürlich ich bleibe, wenn ich unterwegs bin, zeigt sich dort doch eine andere Miriam. An einem freien Tag zu Hause liege ich manchmal bis mittags im Bett, weil ich mich so träge fühle. Auf Reisen passiert mir das selten. Ich habe das Gefühl, die ganze Welt gehört mir und ich möchte doch nichts verpassen, wenn ich schon nur begrenzt Zeit an einem Ort habe.

 

Um 6 Uhr morgens aufstehen, um Wandern zu gehen? Kein Problem!

Am Straßenrand verhandeln und Streetfood essen? Kein Problem!

Nicht wissen, wo ich am Abend schlafen werde? Kein Problem!

Der Bus hat Verspätung oder kommt erst gar nicht? Das Auto ist kaputt? Der Flug fällt aus? Alles kein Problem!

 

Während ich im Alltag immerzu angespannt bin und viel nach Plan funktionieren muss, bin ich auf Reisen deutlich lockerer und entspannter. "There is no hurry in Africa", sagt man in Kenia (und in anderen afrikanischen Ländern) gerne - und genau das ist es. Ich kann es nicht ändern, ich nehme die Situation an und schaue, was sich aus ihr ergibt. Ich habe ja ohnehin keine Verpflichtungen - wie im Alltag, wo ich möglicherweise Termine verpasse, wenn der Bus zu spät kommt.

 

Diese Abenteuerlust, die kenne ich aus meinem Alltag nicht - auch wenn es sicherlich Möglichkeiten gäbe, sie zu integrieren. Aber auch das bedarf der Übung und Vorbereitung, auch das kann nicht ad hoc von heute auf morgen umgesetzt werden, wie es durch Corona notwendig geworden wäre.


Corona, Depressionen und Reisen: Was jetzt?

Wer Reisen als Therapie nutzt und braucht, für den ist es ziemlich schwierig in der Corona-Pandemie. Es ist nicht nur ein Hobby, das für mich wegfällt. Eines, auf das ich auch mal verzichten könnte. Es ist nicht als würde ich mir ein Bein brechen und könnte deshalb für einige Zeit keinen Fußball mehr spielen. Es ist eher, als würde das bisher helfende Medikament nicht mehr produziert und nun muss ich ad hoc damit klarkommen oder eine Alternative finden. Jeder Tag, jede Woche ohne die Alternative wird es schwieriger, einen Ersatz zu finden, denn die Situation und die depressiven Strukturen schlagen auf Stimmung und Gesundheit. 

 

Ich habe noch keine Alternative zum Reisen gefunden. Und auch keine für die anderen Methoden, die wegen Covid-19 nicht mehr möglich sind. 

 

Eine gewisse Zeit über war es möglich, meine Bedürfnisse mit anderen Methoden zu stillen. Ich war im Juni und Oktober beim Wellness, war im Sommer im See schwimmen und habe mit Freunden in meiner Stammkneipe in Hannover die Werder-Spiele geschaut. Ich war mit meinem Mann unterwegs und wir sind unterwegs eingekehrt - ja, wir gehen sehr gerne essen.

 

Doch es gibt eben auch die langen langen Phasen des (Teil-)Lockdowns, in denen all die Dinge, die ich mir über Jahre als Instrumente angeeignet habe, um mit meiner Erkrankung zu leben, nicht mehr möglich sind. Whirlpools: tabu. Sauna: tabu. Stadionbesuch: tabu. Schwimmbad: tabu. Museumsbesuch: tabu. Patenkind sehen: tabu. Freunde treffen: tabu. In die Kneipe gehen: tabu. Im Restaurant essen: tabu.

 

Ich weiß, dass das alles Dinge sind, die Luxus und Privileg bedeuten. Das ist mir bewusst. Aber sie waren eben Normalität für mich und viele andere, sie waren unsere Medizin, weil sie in unserem Leben so selbstverständlich waren. Und da wären wir bei den Methoden, die ich gelernt habe: Was nun, in einer Phase, in der man aufgrund der Umstände einer Pandemie ohnehin psychisch angespannt ist? Wir Depressive kommen nur mit den Methoden aus, die wir schon gelernt und automatisiert haben. Wir können nicht ad hoc neue lernen und umsetzen. Wir müssen mit dem klarkommen, was da ist. Und im Moment ist da nicht mehr sehr viel. 

 

Natürlich kann man ein paar Dinge angehen. Versuchen rauszugehen. Spazieren gehen. Laufen gehen. Eine Radtour machen. Aber es ist eben nicht das Gleiche, es sind schlechtere Alternativen.

 

Selbst wandern ist derzeit nicht so einfach für jemanden mit einer depressiven Störung: Die Tage sind kurz, das Wetter hier in Hannover in den vergangenen Tagen und Wochen eher sehr grau und nass und wer mitten in der Stadt wohnt, muss ja erst einmal rauskommen - ohne eigenes Auto bleibt für mich (da ich derzeit den ÖPNV zu meiden versuche)  nur das Fahrrad. Damit ist der Radius begrenzt.


Corona und Depressionen: Die Unsicherheit quält

Ich bin psychisch erstaunlich gut durch die Pandemie gekommen - bisher. Auch wenn mir das Reisen und vor allem die Freiheit, all die schönen Dinge zu tun, fehlen. 

 

Oktober/November ist normalerweise die Zeit im Jahr, die ich grundsätzlich im Ausland verbringe. Ich mag den Herbst nicht. Ich mag es richtig kalt mit viel Schnee oder richtig warm mit viel Sonne. Deshalb taugt mir der Herbst nicht. Ich bin zum Glück nicht ganz so empfindlich, was Jahreszeiten und psychische Gesundheit betrifft. Aber es gibt viele Menschen, die gerade ab Oktober, wenn es draußen dunkler, grauer, kälter, nasser wird, in Depressionen schlittern. Um dem vorzubeugen, fährt man in der Jahreszeit eben weg. So hab ich es gemacht. Sonne oder Schnee statt Schietwetter - das hat viele Jahre wunderbar funktioniert. 

 

Ein weiterer großer Punkt: Was die Situation aktuell für psychisch kranke Menschen schwierig macht: Wir haben keine Perspektive. Ja, die fehlt uns allen, das ist mir bekannt. Aber es gibt Menschen, die diese Perspektive mehr brauchen als andere, weil sie für uns der Grashalm sind, an den wir uns klammern. 

 

Ich kann es schaffen, die aufkommenden Depressionen alleine durch Vorfreude auf eine große oder tolle Reise oder ein schönes Fest oder einen Ausflug mit Freunden niederzuringen. Die Psyche ist zu vielem fähig. Aber wir wissen nicht, wann es besser wird. Wir wissen nur, dass es noch lange dauern wird, bis genügend Impfstoffe da sind, bis wieder so etwas wie Normalität einkehrt. Dieses "irgendwann" ist zu abstrakt, als dass es psychisch Kranken helfen könnte. 

 

Für mich persönlich bedeutet das im Moment: Die Vorfreude auf Reisen fehlt. Im Sommerurlaub hatten wir uns ein Auto gemietet und haben erst beim Losfahren entschieden, wohin wir fahren. Die Flitterwochen im Oktober auf Kreta haben wir keine Woche vor Abflug gebucht, weil wir wegen der Corona-Situation flexibel sein mussten.

 

Im kommenden Jahr steht unsere Hochzeitsfeier an, mit Gästen aus acht Ländern. Wird das möglich sein? Werden wir feiern können? Werden alle kommen können und dürfen? Können wir danach in die Flitterwochen? Mein Mann wollte dieses Jahr in Boston den Marathon laufen - werden wir das nächstes Jahr nachholen können? Und wann kann ich endlich mein Patenkind in Norwegen wiedersehen? Wann mein Patenkind in Bremen (okay, das würde generell gehen - aber ich respektiere einerseits den Wunsch der Familie, die Kontakte auf Null zu fahren, andererseits ist gerade nicht die beste Zeit, sich anderthalb Stunden in einen Zug zu setzen)? 

 

Die Unsicherheiten betreffen uns alle und ich schätze, dass die meisten Menschen in Deutschland und auf der Welt aus dem ein oder anderen Grund unter der Corona-Pandemie leiden - weltweit sterben Menschen sogar an den Folgen der Pandemie, ohne an Corona erkrankt zu sein. Ich würde nicht entscheiden wollen, was geöffnet wird und was nicht, wer was darf und wer wann einen Impfstoff bekommt. Ich bin froh, nicht in der Verantwortung zu stehen und schätze es daher umso mehr, dass es Menschen gibt, die diese Verantwortung übernehmen - auch wenn es falsch sein kann. 

 

Aber ein bisschen mehr Rücksicht aufeinander wäre doch ganz nett. Wenn jemand sagt, dass er Reisen muss, weil er es braucht, verbirgt sich dahinter nicht automatisch ein Corona-Leugner oder ein rücksichtsloser Egoist. Es ist vielleicht ein Mensch, der nur deshalb überlebt. In einem persönlichen Gespräch sagte Barbara von "Reisepsycho" die Tage zu mir: "Jeder hat seinen Grund" - und das ist doch genau das, worum es geht: Es gibt einen Grund dafür, jene nicht zu isolieren und schlechtzureden - weil sie einen Grund haben.

 

Hilft dir das Reisen auch in irgendeiner Weise? Oder brauchst du es nicht?

Du möchtest mir etwas zu dem Artikel sagen? Du hast eigene Gedanken und Anregungen, oder auch Kritik, die du einbringen möchtest? Ich freue mich über deinen Kommentar. 

 
     

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Kommentare: 18
  • #1

    Ines (Montag, 21 Dezember 2020 18:47)

    Auch ohne Depressionen erkenne ich mich sehr in deinem Artikel. Ich brauche Ausflüge/Reisen um meine Batterien aufzufüllen. Alltag + kleine Kinder ist sehr anstrengend und für mich gibt mir das viel Energie wenn ich weiß an Wochenende fahren wir weg. Danach fühle ich mich auch besser. War in diesem Jahr sehr dankbar dafür, dass wir ein Wohnmobil haben und einfach loskonnten. Der Herbst ohne Wohnmobil und mit sehr wenigen Ausflügen plus extra viel Stress auf der Arbeit war schwierig. Aber jetzt geht die Skisaison los (waren am Sa) und im Januar geht es eine Woche in die schwedischen Berge skifahren. Das macht für mich einen großen Unterschied und gibt viel Energie.
    Verstehe dich voll und ganz und ich glaube wenn bei mir die Erholung durch Reisen und kleinere Ausflüge wegfallen würde dann würde ich nach einiger Zeit im burn out landen.

  • #2

    Ulrike (Dienstag, 22 Dezember 2020 04:17)

    Liebe Miriam,
    auch ich leide seit ewigen Zeiten an Depressionen, mal mehr mal weniger schlimm. In manchem, was Du schreibst, erkenne ich mich wieder. Nur ich bin einen anderen Weg gegangen. Schon früh habe ich erkannt, dass das Reisen manchmal eine Flucht sein kann, eine Flucht vor dem realen Leben, das mit all seine Herausforderungen auch unglaublichen Druck ausüben kann. Wenn man unterwegs ist, braucht man sich keine Gedanken darum zu machen, dass die Wohnung geputzt, die Steuererklärung gemacht oder Freundschaften gepflegt werden müssen. Besonders meine 18monatige Reise durch Asien vor vielen Jahren ist mir als eine Zeit ohne Verantwortung für irgendetwas in Erinnerung. Keine Staubmäuse in den Ecken, die vorwurfsvoll nach Putzen verlangten usw.
    Aber frei von solchen Pflichten zu sein, kann das wirkliche Freiheit sein? Ich lernte zu meditieren, auf der Suche nach Innerem Frieden. Ich wollte wirklich frei sein, frei von den Erwartungen anderer an mich, frei auch von Sehnsüchten, auch von der Reisesehnsucht.
    Und ich habe mich immer schon gefragt, was der Unterschied ist zwischen einem Ausflug in meiner Heimatstadt (früher auch Hannover) oder einem Tag in Paris oder Peking. Ich mache meine Ausflüge hier genauso wie unterwegs mit Neugier und Freude.
    Ich muss nicht mehr reisen, um Frieden und Freude zu finden. Das gibt mir Kraft in diesen schweren Zeiten. Dass das aber nicht immer klappt, weißt Du selbst. Den Depressionen kann man nicht entkommen, egal wie weit man reist. Man kann sie eine Weile verdrängen, aber wenn man wieder zurück ist, dann sind sie gleich wieder da.
    Ich wünsche Dir, dass auch Du zu innerem Frieden findest.
    Liebe Grüße
    Ulrike

  • #3

    Sabrina Bechtold (Dienstag, 22 Dezember 2020 19:17)

    Liebe Miriam,

    ich gebe zu, dass ich diesen Artikel weitaus bewusster gelesen habe, als die meisten Deiner vorigen Artikel. Warum? Das weißt Du ja eigentlich schon, aber auch ich bin ja von Depressionen und Ängsten geplagt, und Dein Beitrag berührt mich und trifft mich ins Herz. Auch für mich sind das Reisen und das Wandern die allerbeste Therapie und ich leide sehr unter den Entzugserscheinungen.
    Ich halte mich zwar mit viel Sport, Laufen und Yoga über Wasser, aber es ist eben einfach nicht das Gleiche. Und auch ich stoße auf sehr viel Unverständnis, bei anderen und habe den Satz "Dann fährst Du dieses Jahr halt mal nicht weg..." schon mehr als genug gehört.
    Genau wie Du könnte ich auf Weihnachten, Gottesdienste, Geschäfte und alles andere ziemlich problemlos verzichten. Dass ich keine Möglichkeit habe, zu reisen, fühlt sich so an, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen.
    Ich hoffe so sehr auf mehr Normalität in 2021. Ansonsten wird es für mich auch ziemlich kritisch....
    Versuche aber zuversichtlich zu bleiben.
    Ganz liebe Grüße und alles Gute für Dich,
    Sabrina

  • #4

    Heike I Pushbikegirl.com (Dienstag, 22 Dezember 2020 19:29)

    Liebe Miriam, ein Glueck habe ich keine Schwierigkeiten mit Depressionen, habe aber von Anfang an in dieser Krise an alle die gedacht, die zwar koerperlich nicht erkranken, dafuer aber seelisch!

    Alles Gute, LG Heike

  • #5

    Antje M. (Dienstag, 22 Dezember 2020 20:18)

    Liebe Miriam,
    ich erkenne mich in vielem wieder, auch wenn es nicht die großen Abenteuer bei mir sein müssen, der Verzicht auf das Reisen fällt mir auch schwer. Ich brauche meinen Urlaub zum Auftanken und Durchatmen. Gottseidank hatte ich in diesem Jahr eine wunderschöne 5wöchige Kur am Bodensee bei bestem Spätsommerwetter, das war meine Rettung um Kraft zu schöpfen. Ich verstehe Dich und hoffe für uns alle, dass 2021 der Corona-Spuk irgendwann vorbei ist! Solange pass auf Dich auf und bleib gesund!
    LG Antje

  • #6

    Angela (Mittwoch, 23 Dezember 2020 16:45)

    Spannender Beitrag, liebe Miriam!
    Ich finde es wichtig, dass diese Perspektive auch mal wahrgenommen wird. Ich glaube, viele Menschen können sich gar nicht vorstellen, was Reisen manchen bedeutet.
    Liebe Grüße
    Angela

  • #7

    Christiane (Mittwoch, 23 Dezember 2020 17:02)

    Danke Miriam, dass du uns so offen an deinem Leben teilhaben lässt, gerade als nicht Kranke sind diese Einblicke hilfreich. Ich hoffe für dich- und uns alle, das das Elend bald ein Ende hat. Dir alles gut. LG Christiane

  • #8

    Bea (Mittwoch, 23 Dezember 2020 21:13)

    Liebe Miriam,

    danke, dass Du das Tabu-Thema Depressionen so offen ansprichst, denn damit zeigst Du Menschen, die darunter leiden, dass sie nicht alleine sind! Gerade jetzt ist das unbezahlbar! Denn selbst wenn man nicht unter der Krankheit leidet, der zweite Lockdown ist für alle nicht einfach. Da wird man schon mal schwermütig, traurig und nachdenklich. Und wenn man dann an einer Krankheit wie Depressionen leidet, ist das super schwer! Meine Freundin ist Psychologin, die schon im 1. Lockdown mit ihrer Gruppe viel zu tun hatte. Ich hoffe für uns alle, dass wir da gesund rauskommen und bald wieder reisen können - das tut der Seele einfach gut!

    Trotzdem frohe Weihnachten, liebe Grüße, Bea.

  • #9

    Anja (Mittwoch, 23 Dezember 2020 21:49)

    Liebe Miriam,
    herzlichen Dank für diesen sehr persönlichen Beitrag und deine Offenheit. Ich sehe es ähnlich und mir macht ebenfalls die Ungewissheit zu schaffen.

    Wir haben übrigens im vergangenen Jahr Norwegen für uns entdeckt. Die für April geplante Reise mussten wir leider absagen.

    Ich finde deinen Umgang mit deiner Krankheit stark - du kämpfst. Und indem du darüber schreibst, machst du gewiss vielen anderen Betroffenen Mut. Respekt!

    Herzlichen Gruß
    Anja

  • #10

    Steffi (Mittwoch, 23 Dezember 2020 22:37)

    Huhu,

    das nenne ich mal einen ehrlichen Beitrag. Ich hatte bisher nie darüber nachgedacht das gerade für Menschen mit Depressionen das Reisen so eine große Bedeutung haben kann.

    Ich hoffe, dass du im nächsten Jahr wieder etwas reisen kannst.

    LG
    Steffi

  • #11

    Julia (Mittwoch, 23 Dezember 2020 23:54)

    Hallo Miriam,

    ich kann nichts dazu sagen, ob und wie das Reisen Hilft. Aber ich kann mir vorstellen, dass es der Seele guttut von Zuhause raus zu kommen. Reisen tut eh sehr gut. Wenn es dir Hilft dann ist es sehr gut. Jeder hat einen anderen Schwerpunkt das er eine Unterstützung bekommt und du gehst bei Reisen ja auch richtig auf. Also hast du das alles richtig gemacht.##Liebe Grüße
    Julia

  • #12

    Ute reist (Sonntag, 27 Dezember 2020 22:08)

    Hallo Miriam,
    Es ist sicherlich nicht leicht mit einer solchen Krankheit zu leben. Gott sei Dank wird aber heute darüber gesprochen und du tust es auch. Ich finde deine Ehrlichkeit super. Was das Reisen betrifft, ich kann ohne auch nicht so richtig leben. Und auch von Corona habe ich mich nicht davon abhalten lassen, den einen oder anderen Ort zu besuchen. Ich denke, es ist wichtig (auch für die Seele) seine Träume zu leben und sich Wünsche zu erfüllen. Also lass dich nicht unterkriegen.
    Ich freue mich über deinen nächsten Blog.
    Ute reist

  • #13

    Jacky (Montag, 28 Dezember 2020 22:46)

    Wieder richtig gut geschrieben.
    So langsam fällt mir auch die Decke auf den Kopf und ich würde gerne mal wieder raus...und wenn es nur ein Tagesausflug wäre.

  • #14

    Katrin Haberstock (Mittwoch, 06 Januar 2021 12:58)

    Hallo Miriam,

    Hut ab das du so offen darüber reden kannst. Das ist ein riesen Schritt.
    Ich kann es auch nicht nachvollziehen wenn Menschen sagen das sie ein Jahr ohne reisen schaffen. Ich liebe das Reisen auch und hoffe sehr das wir dieses Jahr dieser Sehnsucht und für dich die Medizin wieder erfüllt bekommen.

    Liebe Grüße
    Katrin

  • #15

    Lisa von Travellerin (Sonntag, 10 Januar 2021 09:24)

    Liebe Miriam,
    ein sehr starker Artikel. Danke für deine Offenheit. Genau solche Worte sind soo hilfreich für andere Menschen, die auch an Depressionen leiden und entabuisieren das Thema. Die Frage rund um Reisen und Gottesdienst finde ich spannend. Wenn sich jeder korrekt im Urlaub verhalten würde, wäre Reisen wohl auch mit nur wenig Bedenken möglich. Ich bin letztes Jahr auch verreist und würde es wieder tun.
    Liebe Grüße Lisa von Travellerin.de

  • #16

    Elena (Freitag, 11 Juni 2021 14:03)

    Hallo ihr Lieben.

    Bin auf diese Seite gestoßen und würde mich über eine Antwort sehe freuen. Bin elena und 27 habe immer wieder depressive phasen und auch ein paar Störungen ( mache viel sport, schaue auf meine Ernährung zb) bine in ADHSler und bin mit meinem Leben unzufrieden. Hab nen Job der mich nicht erfüllt und eine Wohnung in der ich mich wie eingesperrt fühle. Am liebsten bin ich in der Natur/ im wald dort fühl ich mich frei. Ich hab mega lust mit einem womo zu reisen aber die ängste, zwänge, eventuelles Heimweh usw hindern mich daran. Versuche im Netz aktuell antworten zu finden oder wenigstens gleichgesinnte die mir da weiterhelfen könnten. Würde mich daher sehr über eine Antwort freuen � liebe grüße

  • #17

    Miriam von Nordkap nach Südkap (Sonntag, 13 Juni 2021 21:39)

    Liebe Elena.
    Es freut mich, dass du auf diese Seite gefunden hast und auch den Mut aufgebracht hast, hier zu kommentieren.
    Wenn du magst, schreib mir einfach eine Nachricht, dann können wir uns gerne austauschen: miriamkeilbach@gmx.de
    Beste Grüße von Miriam von Nordkap nach Südkap

  • #18

    Sonja (Freitag, 03 März 2023 01:30)

    Hi, der Text spricht mich total an. Man ließt soviel, dass man mit Depressionen auf gar keinen Fall reisen soll. Weil die Depression mitreist und so.
    Für mich sind Reisen der Grund zum Weitermachen. Es geht mir auf Reisen in der Regel besser. Ich fühle mich frei. Und ja, auch ich habe das Gefühl auf Reisen ein anderer Mensch zu sein. Reise alleine. Traue mich viel.